Neue Tiefbohrung unter Reservoir Shivaji Sagar des Staudamms Koyna, Indien, soll endlich abschließend Aufschluss geben, ob Stauseen Erdbeben auslösen können.
Von Christian Russau
Heute auf den Tag vor 50 Jahren, am 11. Dezember um 4:21 Uhr Ortszeit, erbebte die Erde im westlichen Indien, in der Nähe der Kleinstadt Koynanagar, im Bundesstaat Maharashtra, rund 200 km südlich dessen Hauptstadt Mumbai. Das Beben erreichte die Stärke von 6,3 auf der nach oben offenen Richterskala, andere Erhebungen schätzten die Bebenstärke gar zwischen 6,5 und 7,5. Bis zu 200 Menschen starben, Tausende wurden obdachlos. Was das Beben allerdings in die Geschichtsbücher eingehen ließ: Es war das erste Beben in der Geschichte, das eine mit harschen Argumenten ausgetragene wissenschaftliche Debatte über die Frage lostrat, ob das Erdbeben wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge eindeutig von einem Stausee ausgelöst worden war oder nicht.
Der Stausee heißt Shivaji Sagar. Der Staudamm heißt Koyna. Das ab 1961 geflutete künstliche Staureservori Shivaji Sagar umfasst eine Fläche von 891.78 Quadratkilometer, ist rund 50 Kilometer lang, an seiner tiefsten Stelle ist der See 80 Meter tief. Er hat ein Fassungsvermögen von 2,8 Milliarden Kubikmeter.
Die Gegner der These, der Stausee, dessen Wasser und Gewicht hätten das Erdbeben ausgelöst, argumentierten, tief in den Gesteinsspalten unterhalb des Stausees sei kein eingedrungenes Wasser, so dass eine Wasser induzierte seismische Aktivität ausgeschlossen werden könne. Die Gegner der sogenannten RIS-These (Reservoir Induced Seismicity) legten Berechnungen vor, nach denen die Gesamtlast des Shivaji-Sagar-Reservoirs je square foot (0,092903 Quadratmeter) rechnerisch nur bei 3,5 bis 4,0 Kilogramm liege, im Vergleich sei das Verhältnis von Stausee zum darunter gelegenem Fels in ähnlicher Beziehung wie eine auf einem Elephanten sitzende Fliege.
Die Befürworter der RIS-These wiederum wiesen daraufhin, dass sehr wahrscheinlich doch Wasser in die Poren des Gesteins eingedrungen sei. Zudem sei in der Region des vor dem Anfang der 1960er Jahre errichteten Bau des Stauwerks kein Erdbeben gemessen worden. Vor allem die Tatsache, dass in den Jahren zwischen 1973 und 1980 regelmässig Erdbeben erfolgten, wenn im vorausgegangenen Monat die Maximalstauhöhe jeweils neue Rekordmarken erreichte, ließ die Forschergemeinde einen direkten Zusammenhang zwischen dem Stauseegewicht und den Erdbeben annehmen. Die vom Beben betroffene Region erstreckte sich im Umkreis von 20 bis 30 Kilometern des Stausees, im Umkreis von 100 Kilometern war keine andere Erschütterung zu spüren und eigentlich gelte ja das unter dem Stausee gelegene Gebiet als nicht sonderlich erdbebenanfällig.
Nun aber soll dem alten Streit ein wissenschaftlich begründetes Ende gesetzt werden. Der Geologe und Seismologe Harsh K. Gupta, einer der führenden Befürworter der RIS-These, plant mit Kollegen eine insgesamt sieben Kilometer lange Bohrung unter dem Stausee, wobei er drei bis vier Kilometer in die Tiefe und rund drei bis vier Kilometer im Halbbogen bohren will, um die Gesteinsschicht zu untersuchen und um abschliessend zu verstehen, wie das Erdbeben auftreten konnte. Diese Erkenntnisse wären nicht nur hilfreich, um den alten Streit um die Erdbeben induzierende Wirkung von Stauseen zu belegen, sondern auch um in die Zukunft der Region um den Stausee Shivaji Sagar zu schauen als auch generell zu Bewertungen u kommen, welche potentiellen Gefahren von Stauseen ausgehen – oder eben doch nicht. Seit dem Erdbeben von 1967 hat es unter dem Stauseegebiet bisher mehr als 200 Erdbeben mit einer Stärke über 4 auf der Richterskala gegeben und 22 Vorfälle, bei dem der Wert auf über 5 sprang. Der Seismologe Seismologe Harsh K. Gupta geht davon aus, dass die Beben noch während der nächsten rund dreißig bis vierzig Jahre stattfinden werden, bevor der Spannungsausgleich erreicht sei. Um dies zu beweisen, wird er jetzt im Auftrag des Forschungsministerium bohren, und zwar sehr tief. 2014 waren bei früheren Bohrungen die Tiefen von 1.500 Meter bzw. im Jahr 2016 ein Bohrloch mit einer Tiefe von drei Kilometern gebohrt worden. Nun soll es ebenfalls drei bis gar vier Kilometer in die Tiefe gehen sowie durch die sich in der Tiefe anschliessende Wendung im Halbbogen sollen dann die weiteren vier Kilometer entscheidenden Aufschluss über die seismischen Spannung im Untergrund geben – und was das mit Stauseen zu tun haben könnte – oder eben doch nicht. Wir sind gespannt.