Photo: Verena Glass. Motiv: Indigener in einem Fluss Amazoniens
Einer der zwei richtig großen Staudämme am Rio Madeira im brasilianischen Bundesstaat Rondônia ist neben Santo Antonio das Wasserkraftwerk Jirau. Am 6. September dieses Jahres produzierte Jirau seit genau zehn Jahren Strom – was in der Presse abgefeiert wurde. Wieder einmal wurde vergessen, die Schattenseiten zu erwähnen. Was wir hier mit ein paar Beispielen in Erinnerung rufen möchten.
Von Christian Russau
Der 3,75 Megawattstaudamm Jirau am Fluss Madeira im brasilianischen Bundesstaat Rondônia ist den nationalen Statistiken zufolge für 2,6 Prozent der Stromproduktion in Südamerikas größtem Land verantwortlich. Jirau Energia gehört den Gesellschaftern CGT Eletrosul, Chesf und Mitsui zu jeweils 20 Prozent und die franzöische Engie über ihre Tochter Engie Brasil Participações hält 40 Prozent. Die 50 Turbinen haben in den zehn Betriebsjahren über 128.000.000 MWh Strom produziert, was rechnerisch der Stromversorgung Nordbrasiliens für einen Zeitraum von zwei Jahren entspräche. Im entsprechenden Pressebericht wird mit Nachdruck auf die Erfolge und Nachhaltigkeit von Jirau hingeweisen, wie eine UN-Zertifizierung als größtes erneuerbare Energienprojekt, es ist die Rede von 700 Millionen Reais (umgerechnet etwas über 100 Millionen Euro) als Kompensationszahlungen an die Behörden von Staat, Land und Munizip und vielen weiteren ökologischen und Wohltätigkeitsmaßnahmen und -projekten, die Jirau ermöglicht habe.
„Vergessen“ in dieser Berichterstattung werden (siehe hierzu zusammenfassend bei Bank Track) die für den Bau des Staudamms Zwangsumgesiedelten, die erheblichen zusätzlichen und vermehrt auftretenden Überschwemmungen, die Indigenen der Region, deren Lebensgrundlage durch Einschnitte in ihr Gebiet in Mitleidenschaft gezogen wurde, ebenso wie die in der Region vor dem Staudammbau in freiwilliger Isolation lebenden Indigenen in ihrer Existenz bedroht wurden und werden, und dass durch den Staudammbau – wie eine umfassende Universitätsstudie bestätigte – ein Rückgang der Fischbestände um 40 Prozent im Rio Madeira zu verzeichnen ist, – all dies wird in der Berichterstattung schnell vergessen zu erwähnen.
„Vergessen“ zu erwähnen wurde auch der große Bauarbeiterprotest vom März 2011, den wir hier noch einmal mit allen Wendungen im Anschluss desselben nacherzählen müssen (originale Langversion hier).
Die aufgestaute Wut der Arbeiter:innen über Arbeits- und Wohnbedingungen brach sich an zwei Tagen im März 2011 Bahn. Sie zündeten 50 Busse und die Hälfte der Unterkünfte der 20.000 auf der Baustelle tätigen und wohnenden Arbeiter:innen an. Ausstehende Löhne, keine Anerkennung der Überstunden, gravierende Mängel bei der Arbeitssicherheit, psychischer und auch physischer Druck, mangelnde medizinische Vorortversorgung – all dies hatte Tausende von Arbeiter:innen an jenem 15. März 2011 in Rage gebracht. Nach zwei Tagen beendeten Spezialeinheiten des Militärs die Proteste, der Bau des 3.750 Megawatt-Staudamm wurde monatelang unterbrochen.
Das Baukonsortium beklagte einen direkten Schaden von 400 Millionen Reais (damals umgerechnet 170 Millionen Euro) und künftige Ausfälle wegen der Bauverzögerungen infolge der Arbeiterproteste in Höhe von bis zu einer Milliarde Reais (damals 360 Millionen Euro). Diese Summe wollten die Bauherren von den Versicherern erstattet bekommen. Hatten sie doch im August 2009 eine doppelte Police abgeschlossen zur Absicherung gegen Schäden und Ausfälle durch Verzögerungen bis zu einer Gesamthöhe von zwei Milliarden Reais (damals 720 Millionen Euro).
Die Versicherer SulAmérica CIA. Nacional De Seguros S.A., Allianz Seguros S.A, Companhia De Seguros Aliança Do Brasil, Mapfre Vera Cruz Seguradora S.A., Itaú–Unibanco Seguros Corporativos S.A. und Zurich Brasil Seguros S.A. boten aber zunächst – nach Absprache mit ihren Rückversicherern (darunter auch wiederum die Allianz, Zurich Re sowie Swiss Re) – maximal 100 Millionen Reais an.
Infolge des ersten Schlagabtauschs zwischen Baufirmen und Versicherern kam es zu keiner schnellen Einigung. Es folgte eine doppelt überraschende Wende. Zunächst erklärten die Versicherer – laut Medienberichten erneut nach Rücksprache mit ihren Rückversicherern –, dass es bei den Arbeiter:innenprotesten um einen normalen Arbeitskampf ging. Laut Police hätten die Versicherer (und somit auch die Rückversicherer) in diesem Fall nichts zu zahlen brauchen. Dazu passte die Aussage, dass die Versicherer infolge des zunehmenden Wettbewerbsdrucks unter den Baufirmen eine starke Tendenz zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sahen.
Das Baukonsortium jedoch argumentierte, bei den Protesten habe es sich nicht um einen Arbeitskampf, sondern schlicht um „Banditentum“ und „Vandalismus“ gehandelt, der Protest sei daher „nicht politisch“ und die Versicherer (und damit auch die Rückversicherer) hätten zahlen müssen.
Da aber kam den Versicherern und Rückversicherern die Idee, die Vertragspolice noch einmal genau zu lesen. Und dort steht in Klausel 12: „(…) im Falle, dass der Versicherte und Versicherer zu keiner Einigung über die Höhe der unter dieser Police zu leistenden Zahlung gelangen, wird der Disput vor ein Schiedsgerichtsverfahren unter den Regularien von Arias geführt werden“. Arias ist das in London beheimatete internationale private Schiedsgericht der Versicherungs- und Rückversicherungsbranche. Und dorthin verlegten die Versicherer die Klage. Über das Londoner Schiedsgericht Arias urteilt selbst das brasilianische Kartellamt Conselho Administrativo de Defesa Econômica (CADE), dieses sei „intensivst kontrolliert durch Rückversicherer“.
Die Überraschung in Brasilien war groß. Waren doch diese privaten internationalen Schiedsgerichte immer der Grund dafür gewesen, dass Brasilien keines der bilateralen Investitionsschutzabkommen (BIT) je ratifiziert hatte. Und ohne solch ein BIT konnte kein internationales Schiedsgericht brasilianische Rechtsprechung aushebeln. Dachte man bisher in Brasília.
Im Fall der Jirau-Klage der Versicherer gegen die Baufirmen erklärte der Londoner Richter sich (und sein Schiedsgericht) jedoch für alleine zuständig und urteilte Anfang 2012, dass in diesem Rechtsstreit die Baufirmen Enesa, Camargo Corrêa und das Konsortium auf keinen Fall brasilianische Gerichte anrufen dürften, bei Zuwiderhandlung drohe den Managern Haft.
Währenddessen urteilte nahezu zeitgleich ein Gericht in São Paulo, dass die Versicherer unter keinen Umständen den Fall vor die britische Justiz oder das britische Schiedsgericht Arias bringen dürften, bei Zuwiderhandlung drohe ein tägliches Strafgeld von 400.000 Reais (umgerechnet damals 170.000 Euro). Denn, so die Richter, in dem von den Versicherern und Baufirmen unterschriebenen Vertrag sei zwar der explizite Verweis auf das Schiedsgericht in London enthalten, damit solch eine Klausel in Brasilien Gültigkeit habe, müsse aber laut brasilianischer Rechtsprechung darüber ein gesonderter Vertrag geschlossen werden und der entsprechende Passus selbst fett gedruckt sein.
Die brasilianischen Richter:innen verurteilten das Londoner Gerichtsurteil zudem scharf. „Diesem Urteil darf nicht gefolgt werden. Niemand kann eine Partei daran hindern, die [brasilianische] Justiz anzurufen. Es muss das Grundrecht auf Klagemöglichkeit gewahrt bleiben“, so der vorsitzende Richter im April 2012 in São Paulo. Sollte einer der Manager der Baufirmen aufgrund der Londoner Entscheidung in Haft genommen werden, so werde er für jeden Tag Haft eine Strafe in Höhe von einer Million Reais verhängen, die die Versicherer zu zahlen hätten. Doch dies war noch nicht die letzte Entscheidung in dem Vorgang.
Im Juni 2013 entschied der Oberste Gerichtshof Großbritanniens, dass bei Verträgen – egal wo sie auf der Welt geschlossen wurden -, in denen in der Schiedsgerichtsklausel ein britisches Schiedsgericht als Ort Erwähnung findet, dieses auch ausschließlich zuständig sei. Daraufhin wurde auch die brasilianische Presse hellhörig und prognostizierte in Bezug auf die Folgen dieses weitreichenden Gerichtsurteils aus London „anhaltend wachsende Spannungen“ auch zwischen brasilianischer und britischer Jurisprudenz – wegen des noch immer anhängigen Jirau-Streits. Prompt kam in Sachen Baufirmen vs. Versicherer im Oktober 2013 die nächste Wende. Die Parteien einigten sich in Brasilien überraschend auf einen außergerichtlichen Vergleich: Dieser sah vor, dass die Versicherer den Baufirmen 100 Millionen Reais zahlen und die gerichtliche Aushandlung über den „Restbetrag, den die Firmen von den Versicherern fordern, sollte vor dem Schiedsgericht in London stattfinden“. Keine der Parteien – seien es Baufirmen oder Versicherer – wollten gegenüber der Presse diesbezügliche Aussagen treffen. Arias ist ein privates Schiedsgericht, es ist bislang nichts darüber bekannt geworden, ob dieser Fall mittlerweile abgeschlossen ist oder nicht (zumindest ist es dem Autor dieses Textes bis dato nicht gelungen, ein endgültiges Urteil bei Arais einzusehen, sollte wer diesbezügliche Informationen haben, freut sich der Autor über entsprechende Mitteilung, vielen Dank!). London rules.
Das Aussergewöhnlichste aber an dem Fall bleibt die Tatsache, dass Staaten ihre hoheitlichen Aufgaben beispielsweise in Justizfragen verlieren können, selbst wenn sie im Bereich internationalen Rechts diesbezüglich gar keine Vereinbarungen getroffen haben (wie beispielsweise bilateral investment treaties BITs etc), es reicht, wenn zwei Parteien in einen privatwirtschaftlichen Vertrag als Gerichtsstand ein privates Tribunal im Ausland definieren. Klar, den Arbeiter:innen steht solch ein exklusiver Rechtszugang auf internationaler Ebene nicht offen.
// Christian Russau