Brasilien deutet Ende von Plänen zum Bau von Großstaudämmen an – wir erklären, was das mit ökonomisch im Gegensatz zu politisch begründeten Großstaudammprojekten, mit internationalem Widerstand sowie mit der grid parity und dem Aufdecken der großen Korruptionsskandale in Brasilien der vergangenen Jahre zu tun hat.
Von Christian Russau
Anfang Januar kursierten in den Medien relativ zeitgleich drei Zitate von hohen brasilianischen Politikern, Beamten und Wirtschaftsvertretern, die das historische Ende der Phase von großen Wasserkraftwerken in Brasilien andeuteten. Der frühere Direktor der staatlichen Energieagentur Aneel und jetzige Präsident der brasilianischen Wirtschaftsvereinigung der Energieverbraucher, Edvaldo Santana, deutete gegenüber Medien an, dass wohl von nun an keine großen Wasserkraftwerke mehr neu gebaut werden würden. Als Begründung führte er die Privatisierung der Eletrobras an, mittels derer die Regierung zuvor starken Einfluss auf Baugenehmigungen und Lizenzen habe nehmen könne und mit einer nun privatisierten Eletrobras sei „dies sehr viel schwerer“.
Der Präsident der staatlichen Energieforschungsagentur EPE, Luiz Augusto Barroso, erklärte nahezu zeitgleich, seine für die Ausarbeitung der Ausbaupläne bei Energieinfrastrukturprojekten verantwortliche Staatsagentur werde von an vermehrt prüfen, ob sich ein großes Wasserkraftprojekt überhaupt lohne. „Wir von der EPE haben uns entschlossen, einen Schritt zurückzutreten, um den gesamten Prozess dieser Großwasserkraftwerke neu zu strukturieren. Da gibt es eine Grundhaltung, dass jede Wasserkraft gut und billig sei. Und wir überprüfen jetzt, ob diese Projekte richtig sind. Es geht nicht darum, ein Wasserkraftwerk um jeden Preis zu errichten“, so Barroso. Barroso schätzt, dass von den in Brasilien bis 2050 bisher neu angedachten Wasserkraftwerken in einer Größenordnung von 50 Gigawatt „nur 23 Prozent Projekte sind, die nicht in indigene, Quilombola- und Naturschutzgebiete interferieren“ würden. Diese Argumentation ist zwar nicht neu, da dies genau die Argumentation der Umweltschützer, Indigenen, Flussanwohnern und weiteren Betroffenen ist, die seit Jahrzehnten durch Großstaudämme zur Zwangsumsiedlung, unter oft katastrophalen sozialen Umständen, gezwungen wurden. Neu ist, dass dieses Argument nun, leicht gewandelt, aus regierungsnahen Kreisen hoher Beamter kommt. Gleichwohl ist die Argumentation leicht abgewandelt, denn die Motivation, die in erster Linie aus dem EPE-Präsidenten heraus spricht, ist die Kostenfrage. Und diese erläuterte, ebenfalls im gleichen Medienbericht, der dritte hochrangige Politiker, der am selben Tag sekundierte: „Wir haben keine grunsätzlichen Vorbehalte gegen Großprojekte. Aber man muss die Sichtweise der Gesellschaft akzeptieren, die Vorbehalte gegen solche Projekte hat. Wir sind nicht bereit, die Kosten und Risiken zu verschleiern“, sagte der Generalsekretär des Ministeriums für Bergbau und Energie, Paulo Pedrosa.
Abgesehen von der geschickten politischen Breitseite, die die drei hochrangigen Politik und Beamten der derzeitigen Regierung gegen die Vorgängerregierungen unter Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) und Dilma Rousseff (2011-1016) damit lostreten, da unter deren Ägiden in der Tat die umstrittenen Großprojekte von Jirau, Santo Antonio und Belo Monte geplant, umgesetzt und gebaut wurden, wird von der De-Facto-Regierung, die sich Mitte 2016 durch einen parlamentarischen Putsch an die Macht in Brasília gebracht hatte, nun das Kostenargument ins Feld gebracht. Denn dies ist mittlerweile zu offensichtlich: die sozial und ökologisch verheerenden Folgen von Jirau, Santo Antonio, Belo Monte und weiteren wie die derzeit fertigzustellenden Wasserkraftwerke Teles Pires und São Manoel sind zu offensichtlich, der Widerstand der Betroffenen hat zu internationalen Protesten geführt, so dass der politische Preis für solche Großprojekte immer höher wird. Dem wollen die Regierung und der Kongress in Brasília zwar durch Dekrete und Verfassungsänderungen wie zum Beispiel durch die PEC 65/2012, die eine weitestgehende Schleifung der Umweltgesetzgebung und Baugenehmigungsverfahren für industrielle Großprojekte in Form einer unternehmerfreundlicheren Gesetzgebung vorsieht, entgegenwirken, aber dennoch ergäben sich in Zukunft höhere politische Kosten für jedwedes dieser Großprojekte.
Es kommen aber noch zwei entscheidende Faktoren hinzu: Wind und vor allem Photovoltaik sind in den vergangenen Jahren deutlich im Preis gesunken, so dass die so genannte grid parity vielerorts erreicht wurde. Vor allem die Photovoltaik hat Kostensenkungen von 2010 bis 2017 um 70 Prozent erlebt, als Halbleiterindustrie sind dort weitere Kostensenkungen vorprogrammiert. Allein schon deshalb ist seit Längerem klar, dass es binnen weniger Jahre keine ökonomisch begründeten Großstaudammprojekte mehr geben wird. Wohl bemerkt: „keine ökonomisch Begründeten“ mehr, denn „politisch begründete“ Großstaudämme gab es in Brasilien in den vergangenen Jahren viele. Dies belegten nicht zuletzt die Medienberichte über Millionenschmiergelder der Baufirmen an Politiker der vormaligen Regierungskoalition aus PT und PMDB beim Bau von Belo Monte, bei dem es die Abmachung gab, die vorsah, dass ein Prozent der Baukosten je Hälfte-Hälfte paritätisch zwischen Politikern von PT und PMDB aufgeteilt werden müsse. 2013 wartete eine Universitätsstudie mit dem Ergebnis auf, wenn Industrie- und Baufirmen den sich zur Wahl stellenden Kandidaten in Brasilien Gelder zum Wahlkampf spendeten, dass diese Firmen in den darauffolgenden Regierungsjahren das 14-Fache an Regierungsaufträgen erhielten.Dies war die in den vergangenen Jahrzehnten sogenannte „unheilige Allianz“ aus Kapital und Politik.
In Brasilien steht nun aber im Zuge der (politsch durchaus umstrittenen und auf jeden Fall in Teilen auch parteipolitischen Interessen folgenden) Lava-Jato-Anti-Korruptionsermittlungen und -verurteilungen eine grundlegende Neuorientierung der Politiker an, die andere Wege als die bisher üblichen Caixa1-, Caixa2- und Caixa3-Finanzierungsmodelle suchen müssen. Wenn also in Zukunft industrielle Großprojekte wie der Belo-Monte-Staudamm nicht mehr dafür herhalten können, die Wahlkampf- und Parallelkassen der Politikerkaste zu füllen, dann wird leicht einsichtig, warum selbst Brasiliens Politiker das Interesse an Großstaudammprojekten verlieren und nun ihrerseits – geschickt verpackt als Kosten-, soziale und Umweltfrage – das Ende der großen Wasserkraftwerke propagieren.