Bundesstaatsanwaltschaft beantragt Streichung der Umweltlizenz der Überlandleitung Tucuruì zwischen Manaus und Boa Vista, weil das indigene Volk der Waimiri Atroari nicht gemäß den Kriterien der ILO 169 konsultiert wurde. Die Arbeiten zur 721,4 Kilometern langen Überlandleitung zwischen den Bundesstaaten Amazonas und Roraima würden auf 122 Kilometern das Gebiet der Terra Indígena der Waimiri Atroari durchqueren.
Von Christian Russau
Die Bundesstaatsanwaltschaft MPF hat die Bundesjustiz in Brasília aufgefordert, die Umweltgenehmigung der zwischen Manaus im Bundesstaat Amazonas und Boa Vista im Bundesstaat Roraima geplanten Überlandleitung Tucuruí zurückzuziehen, da nach Ansicht der Bundesstaatsanwaltschaft die Interessen der betroffenen Indigenen vom Volk der Waimiri Atroari nicht angemessen berücksichtigt und die Indigenen nicht angemessen konsultiert wurden. Das MPF forderte zudem die Umweltbehörde Ibama, den Bund, die Indigenenbehörde FUNAI sowie die die Leitung planende Firma Transnorte Energia auf, von jeglicher Erteilung einer Genehmigung sowie von allen das Projekt betreffenden Arbeiten solange abzusehen, bis die freie, vorherige und informierte Befragung der betroffenen Indigenen garantiert durchgeführt und eine Einigung erzielt worden sei, wie es von der durch Brasilien 2004 ratifizierten Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO sowie durch die nationale Gesetzgebung vorgeschriebenen Vorgehensweisen bei indigene Völker betreffenden Infrastrukturvorhaben jedweder Art zwingend vorgeschrieben sei. Dies berichtet das MPF auf seiner Internetseite.
Das Ibama hatte die Umweltgenehmigung 1400/2021 erteilt, nachdem zuvor die Nationale Indianerbehörde FUNAI grünes Licht gegeben und formell erklärt hatte, dass das Umweltgenehmigungsverfahren, einschließlich des Konsultationsverfahrens, ordnungsgemäß durchgeführt worden sei. Das MPF wies jedoch auf Rechtswidrigkeiten in diesem Prozess hin, wie z.B. das Fehlen einer ordnungsgemäßen Konsultation, wie sie in der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker vorgesehen ist und durch Artikel 231 der Bundesverfassung gefordert wird. Daraufhin hatte die Indigenenvertretung der Waimiri Atroari Beschwerde beim MPF eingereicht und geeignete Maßnahmen zur sofortigen Aussetzung des Verwaltungsakts zur Erteilung der Umweltgenehmigung und die gerichtliche Löschung dieser Umweltlizenz gefordert.
Der Indigenenverband der Waimiri Atroari wehrte sich in seiner Beschwerde gegen das von FUNAI und Ibama vorgebrachte Argument, dass der Prozess der vorherigen Konsultation im Sinne des ILO-Übereinkommens Nummer 169 abgelaufen sei, da eben kein Konsens mit den Interessen der indigenen Gemeinschaft Waimiri Atroari erzielt worden sei, zudem seien die vorgelegten Entschädigungsvorschläge unzulänglich gewesen. Dieser Ansicht schloss sich das MPF an und forderte nunmehr die Bundesjustiz auf, die Erteilung der Umweltlizenz zurückzunehmen, da diese „unangemessen, falsch und illegal“ sei.
Die Überlandleitung Tucuruí (nicht zu verwechseln mit dem Staudamm Tucuruí im Bundesstaat Pará) soll den Bundesstaat Roraima an das nationale Stromnetz anschliessen. In der Vergangenheit wurden die 177.000 per Netzanschluss verbundenen Strom-Konsument:innen in den betroffenen 15 Munizipien mit Strom aus dem Wasserkraftwerk Guri in Venezuela versorgt, seit März 2019 wurden die Stromlieferungen aus Venezuela wegen mehrere vorheriger Blackouts und wegen diplomatischer Querelen zwischen Venezuela und Brasilien eingestellt, die Stromversorgung Roraimas funktioniert derzeit über fünf Diesel betriebene Kraftwerke des Stromversorgers Roraima Energia.
Um diese Diesel basierte Stromproduktion mit jährlichen Kosten von acht Milliarden Reais zu umgehen, soll der Bundesstaat Roraima an das nationale Stromnetz Brasiliens angeschlossen werden, eben durch die Überlandleitung Tucuruí, die aber durch das Gebiet der Waimiri Atroari gehen würde. Die geplanten Bauarbeiten sollen drei Jahre dauern und 1,5 Milliarden Reais kosten.
Der Indigenenmissionsrat CIMI aber argumentiert, dass das Argument, den Strom nach Roraima zu bringen, weniger der Absicht geschuldet sei, dass die Konsument:innen in Roraima mit billigerem Strom versorgt werden könnten, sondern dass der Strom eher für die geplanten Bergbaukonzessionen in dem Gebiet dienen soll: „So wie damals die Militärdiktatur den Bau der Autobahn BR-174 in das Gebiet dieses Volkes rechtfertigte, als gäbe es dort [in Roraima] ein demografisches Vakuum. Damals rechtfertigte [die Militärdiktatur] gegenüber der Öffentlichkeit die Notwendigkeit, Manaus mit Boa Vista zu verbinden. Aber das Ziel war ein anderes. Die Dokumente, aus denen BR-174 hervorgegangen ist, belegen, dass die Arbeiten auf die Mineralvorkommen im Gebiet dieser Indigenen Völker abzielten. Das Hauptziel der Überlandleitung Linhão ist nicht die Energieversorgung des Bundesstaates Roraima.“ CIMI erklärt weiter: „Das Ziel des Bolsonaro-Linhão ist ein dreifaches: Es geht um die Erschließung neuer Energiequellen, um den Süden des Landes zu versorgen, was ihre Territorien schädigen wird; die Ausplünderung der Bodenschätze ihres Landes; und nicht zuletzt ihre zwangsweise „Integration“, das heißt, sie ein für alle Mal auszurotten, um den multinationalen kapitalistischen Unternehmen freien Zugang zur Ausplünderung der Bodenschätze und der pflanzlichen Ressourcen zu ermöglichen.“