Anwohner*innen und die Fischmigration leiden unter den nach Wirtschaftlichkeitskriterien für den Staudamm festgelegten Wasserdurchflussmengen.
Die brasilianische Bundesstaatsanwaltschaft fordert eine schnelle und
grundlegende Revision der festgelegten Durchflussmengen für den Staudamm
Belo Monte am Xingu-Fluss im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará. Denn
die Anwohner*innen beschweren sich seit Inbetriebnahme der ersten
Turbinen 2016, dass die Wassermenge der sogenannten Großen Flusschleife
(„Volta Grande do Xingu“) ihren Bedürfnissen nicht gerecht wird. Auf 100
Kilometer Länge wird der Volta Grande bis zu 80 Prozent der Wassermenge
entzogen, um diese mittels des damals für den Staudamm Belo Monte
ausgehobenen Kanals in das neue große Reservoir der Wasserkraftanlagen
zu leiten und dort die errechnete Wirtschaftlichkeit des Staudamms zu
gewährleisten. Das sogenannte „Konsenshydrogramm“ legte fest, dass rund
80 Prozent des Xingu-Flusses für den Antrieb der Turbinen des Kraftwerks
verwendet werden und eben nur 20 Prozent in die Große Flusschleife
gelangen müsste, dies sei ausreichend für die dortigen
Flussanwohner*innen. Die Staatsanwaltschaft MPF hat aber nun
festgestellt, dass diese Zahl damals ohne die notwendigen technischen
Studien definiert wurde und jetzt zeigten sich die negativen Folgen für
den Fluss, das lokale Biom und die nahewohnende einheimische
Bevölkerung.
Den Einwohner*innen entlang der Flussschleife geht durch
den Niedrigstand des Wasser die Möglichkeit des durchgängigen
Flusstransports abhanden, und die Fischmigration hat durch die Stauwerke
stark gelitten. Durch den Niedrigstand des Flusses wird auch das Wasser
brackiger und sauerstoffärmer, da es sich mehr und mehr teilweise um
gänzlich stehendes Wasser handelt, was der Fischpopulation zusetzt.
Die
Bundesstaatsanwaltschaft MPF will nun die Revision dieses
„Konsenshydrogramm“, und stellt dabei auch gleich klar, warum allein
schon der Name irreführend sei. „Dieser technische Name kann irreführend
sein, denn das Konsensus-Hydrogramm bedeutet nicht, dass dies
ausgehandelt wurde“, sagte Ubiratan Cazetta, Staatsanwalt in Pará,
gegenüber Medien. Zudem gebe hinreichende „Elemente, die darauf hindeuten, dass das ganze so nicht nachhaltig ist“, so Cazetta.
Ein Vorfall von Februar 2016, als die Ingenieur*innen das Staureservoir rechtzeitig zur pompösen Eröffnung im Mai genügend gefüllt haben wollten, zeigt das Dilemma zwischen Wirtschaftlichkeit für den Damm und massiven Risiken für die flussabwärts lebende Bevölkerung:
Zé Carlos gehört zu denen, die wenig lächeln. Er ist wütend wegen dem, was vor nicht allzu langer Zeit seiner aldeia, seinem indigenen Dorf, zugestoßen ist. Zé Carlos Arara ist der indigene Anführer, der Kazike der Terra Indígena Arara, die in der Volta Grande, einer rund 100 Kilometer langen natürlichen Flussschleife des Xingu liegt, flussabwärts der ersten Staustufe von Belo Monte, Pimental, und flussaufwärts des Hauptturbinenhauses. Als Abkürzung des Flusslaufes haben die Staudammbetreiberin, das größtenteils aus staatlichen Energieversorgern zusammengesetzte Firmenkonsortium Norte Energia, und die Baufirmen einen kilometerlangen Kanal gezogen, der den Großteil des Flusswassers in das große Staureservoir leitet, das der Deich Nr. 6C sichert. Ende Februar 2016 war der sich zum Hauptwasserkraftwerk hin zuspitzende Stausee randvoll. Es hatte so viel geregnet, dass der Staubereich augenscheinlich schneller, als von den Ingenieur*innen geplant, volllief. Oder aber diese hatten sich gründlich verrechnet.
Im Dorf der Arara leben über 100 Menschen, und sie verfügen über Radiofunk, über den sie mit der Außenwelt kommunizieren. Immer morgens zwischen acht und elf Uhr sowie am Nachmittag gegen drei Uhr steht die Verbindung. Zé Carlos hat ein Handy, über das er, wenn er Empfang hat, meistens erreichbar ist. Ende Februar war er in der Stadt Altamira, einige Bootsstunden flussaufwärts, um Besorgungen für die aldeia zu machen. Da klingelte am Abend sein Handy, und ein Mitarbeiter von Norte Energia rief an, um ihm mitzuteilen, dass sie jetzt die Schleusentore bei der ersten Staustufe Pimental öffnen würden und dort viel Wasser in die Volta Grande ablassen würden, sodass der dortige Wasserstand rapide steigen werde. Ob er die Anwohner*innen davon in Kenntnis setzen könne? „Ich sagte Norte Energia, ich bin jetzt in Altamira. Ich habe Norte Energia am Telefon gefragt: ‚Kann man das nicht morgen machen? Jetzt kann ich die aldeia nicht erreichen und meine Leute nicht warnen, wenn wir das Morgen am Vormittag machen, alles kein Problem.‘ Und die Antwort von Norte Energia: ‚Keine Chance. Wir müssen das jetzt machen‘“. Das gab Zé Carlos Arara Mitte März 2016 in Altamira der Bundesanwältin Thaís Santi zu Protokoll. Die Bundesstaatsanwältin ermittelt seit Jahren gegen die Betreiber- und Baufirmen von Belo Monte, hat bereits mehrere Klagen gegen sie eingereicht. Gemeinsam mit ihren KollegInnen der Bundesstaatsanwaltschaft in Belém sowie den Landesstaatsanwält*innen des Bundesstaats Pará nehmen sie die Beschwerden der von Belo Monte betroffenen Bevölkerung auf, ermitteln und erheben Anklage vor Gericht, um die Rechte der Betroffenen zu schützen. Doch die Gerichte lassen sich meist reichlich Zeit.
Zé Carlos war nach dem Telefonat in höchster Aufregung. Die Schleusentore zu öffnen, ohne dass die BewohnerInnen der aldeia vorher gewarnt worden waren. Er war sehr unruhig, konnte nicht einschlafen. „Ich bin früh am Morgen aufgestanden und habe versucht rauszufinden, was denn nun passiert ist. Um acht Uhr am Morgen habe ich es dann geschafft, die aldeia per Radio zu erreichen. Die haben mir dann sofort erzählt, dass in der Nacht auf einmal all das Wasser den Fluss runterkam und vieles von den Fluten mitgerissen wurde. Boote, Motoren, Netze, alles, was da abgelegt worden war. Und was nicht mitgerissen wurde, wurde oftmals zerstört von den Wassermassen. Die Zementmischung zum Beispiel, komplett aufgeweicht und somit nutzlos.“
Die Menschen rannten in Panik davon. Sie dachten, der Damm sei gebrochen. Bei Pimental sind die umgebenden Deiche rund elf Meter hoch, weiter flussabwärts kommen die Deiche auf 50 und 60 Meter Höhe. Das geht bis zu den 65 Metern bei Deich Nummer 6C. Nicht auszumalen, was passieren würde, wenn hier ein Deich Risse aufweisen sollte. „Das zeigt ganz klar: Norte Energia handelt unverantwortlich!“, so Thaís Santi. „Die haben nicht den geringsten Notfallkommunikationsplan! Und das betrifft die ganze Volta Grande.“