Menschenrechtsansatz bei Staudammbauten in der Türkei gefordert
Potsdam, 21.5.2011 – Einer der wichtigsten Menschenrechtsausschüsse der Vereinten Nationen zeigt sich zutiefst besorgt über den Bau des Ilisu-Staudamms sowie anderer Dammprojekte in der Türkei. Das Komitee reagiert damit auf Berichte von zivilgesellschaftlichen Organisationen über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Zuge von Staudammbauten.
Drei Wochen lang hatte der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte untersucht, in wie weit die Türkei und vier weitere Staaten ihren Verpflichtungen aus dem UN-Sozialpakt nachkommen. Im nun veröffentlichten Abschlussdokument fordert der Ausschuss die türkische Regierung auf, ihre Gesetzgebung bezüglich der Umsiedlung komplett zu überarbeiten und einen Menschenrechtsansatz beim Bau von Infrastrukturprojekten, insbesondere Staudämmen, zu verfolgen.
„Der UN-Ausschuss bestätigt damit, dass die türkische Regierung völkerrechtlich verpflichtet ist, seine gesamte Umsiedlungs- und Entschädigungspraxis zu ändern“, freut sich Ercan Ayboğa, internationaler Sprecher der Initiative zur Rettung von Hasankeyf. „Bisher werden die betroffenen Menschen mit Peanuts entschädigt und in neue Dörfer umgesiedelt, in denen sie kein Einkommen und keine Zukunft haben. Dies muss sich nun ändern!“
Außer dem Ilisu-Staudamm, für den die Bundesregierung 2007 staatliche Bürgschaften gewährt hatte, die sie aber zwei Jahre später zurückzog, plant die türkische Regierung den Bau von fast 2.000 weiteren Dämmen und Wasserkraftwerken in den nächsten zwölf Jahren. Bis zu zwei Millionen Menschen wären davon betroffen. „Einen Menschenrechtsansatz zu verfolgen, bedeutet, dass die Betroffenen volle Mitsprache bei der Projektplanung erhalten, dass ihre Rechte auf einen angemessenen Lebensstandard, Gesundheit und Zugang zu ihren Kulturgütern gewahrt werden“, erläutert Heike Drillisch, Koordinatorin von GegenStrömung, der Ilisu-Kampagne in Deutschland. Ein von GegenStrömung in Zusammenarbeit mit mehreren Initiativen in der Türkei erstellter Bericht, hat den UN-Ausschuss bewogen, die Türkei in dem jetzt veröffentlichten Abschlussdokument dafür zu rügen, dass diese Rechte von der türkischen Regierung bisher komplett ignoriert werden.
„Dieses Dokument der Vereinten Nationen zeigt noch einmal, dass der Aufbau eines neuen Rechtssystems unvermeidlich und dringend ist. Die gegenwärtigen Diskussionen über eine neue Verfassung müssen als Chance genutzt werden, Bestimmungen zu etablieren, die grundlegende Menschenrechte anerkennen und sicherstellen, dass Ökosysteme und Gemeinschaften gedeihen können, wie es in Hasankeyf über Jahrtausende der Fall war“, fordert Engin Yılmaz, Generaldirektor der türkischen Naturschutzorganisation Doğa Derneği.
„Das Recht auf eine gesunde Umwelt ist ein fundamentales Menschenrecht. Wir werden nicht aufhören, uns gegen die komplette Zerstörung unserer Gewässer zu wehren, die die Regierung momentan vorantreibt“, stellt Ayşegül Özpınar fest, eine Vertreterin des „Großen Marsches von Anatolien“, einem Protestmarsch, der am heutigen Samstag in Ankara eintrifft. Über mehrere Wochen sind AktivistInnen und Staudammbetroffene aus allen Teilen des Landes in die Hauptstadt marschiert, um gegen die Zerstörung der Natur Anatoliens zu demonstrieren.
Hintergrund:
Neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gehören die Pakte über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) zu den zentralen Menschenrechtskonventionen. Die jeweiligen Ausschüsse untersuchen in periodischen Abständen, in wie weit die Staaten ihren mit der Ratifizierung der Pakte eingegangenen Verpflichtungen nachkommen. Die Türkei hat den Sozialpakt 2003 ratifiziert. In der 46. Sitzung des Ausschusses, die vom 2. – 20. Mai 2011 stattfand, wurden neben der türkischen Regierung auch diejenigen Deutschlands, Russlands, Moldawiens sowie des Jemen angehört.
Die Empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu Staudämmen in der Türkei im Wortlaut (s. http://www2.ohchr.org/english/bodies/cescr/cescrs46.htm):
26. The Committee is deeply concerned at the potential impact of the Ilisu dam under construction, as well as other dams, on the enjoyment of economic, social and cultural rights in the areas concerned, especially with regard to forced evictions, resettlements, displacement, and compensation of people affected as well as the environmental and cultural impacts of the construction of these dams. (art. 11, 12 and 15)
The Committee urges the State party to take account of a human-rights based approach in its infrastructure development projects, especially dams, and to undertake a complete review of its legislation and regulations on evictions, resettlement and compensation of the people affected by these construction projects, especially the Ilisu dam, in line with the Committee’s general comment No. 7 on forced evictions (1997).
Der Bericht “Dam construction in Turkey and its impact on economic, cultural and social rights” ist auf der website des Komitees und unter http://www.gegenstroemung.org/drupal/sites/default/files/CESCR_Parallel%20report%20by%20CounterCurrent%20on%20Turkish%20dams_2011-03-15_0.pdf zu finden.
Informationen über den “Großen Marsch von Anatolien” unter http://vermeyoz.net/
Weitere Informationen: www.hasankeyfgirisimi.com, www.dogadernegi.org
Kontakt:
Heike Drillisch, GegenStrömung, +49(0)177 – 345 2611, heike.drillisch@gegenstroemung.org
Ercan Ayboğa, Initiative zur Rettung von Hasankeyf, +49(0)163 – 757 7847, e.ayboga@gmx.net
Engin Yılmaz, Doğa Derneği, +90(0)549 – 860 2766, engin.yilmaz@dogadernegi.org
Ayşegül Özpınar, aysegul.ozpinar@gmail.com