Liebe Ilisu-Interessierte,
am heutigen 7. Juli jährt sich zum zweiten Mal der Ausstieg der europäischen Exportkreditversicherungen aus dem Ilisu-Projekt. Aus diesem Anlass geben wir im Folgenden einen Überblick über die Entwicklungen der vergangenen Monate. Während die europäischen Regierungen froh sein können, aus dem Skandalprojekt ausgestiegen zu sein, gehen die Bauarbeiten vor Ort weiter und spekulieren die verbliebenen Unternehmen, darunter Andritz aus Österreich und Stucky aus der Schweiz, auf saftige Gewinne. Doch bleibt das Vorhaben in der Türkei weiterhin hoch umstritten. Gleichzeitig weitet sich landesweit der Protest gegen die Naturzerstörung durch Wasserkraftwerke aus. Bis zum Jahr 2023 plant die türkische Regierung den Bau von fast 2.000 weiteren Dämmen und Wasserkraftwerken. Doch zwei Projekte in der Provinz Artvin wurden kürzlich von den Betreiberunternehmen aufgegeben, Gerichtsverfahren gegen zahlreiche weitere Dammprojekte sind anhängig. Die betroffene Bevölkerung, lokale Initiativen, Nichtregierungsorganisationen und landesweite Bündnisse gehen mit Mut und Kreativität gegen den „Verdammung“ ihrer Flüsse vor. Lasst sie uns weiter dabei unterstützen!
Mit solidarischen Grüßen
Heike Drillisch (GegenStrömung)
Ercan Ayboga (Initiative zur Rettung von Hasankeyf)
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Inhalt:
Wasserkraftwerke am Schwarzen Meer gestoppt
Vereinte Nationen besorgt über Wasserkraftwerke in der Türkei
Großer Marsch von Anatolien gegen Naturzerstörung
Hasankeyf wieder eröffnet für Touristen
Streik auf Ilisu-Baustelle
Gutachter im Gerichtsauftrag unterwegs
Fünfte Baumpflanzaktion im "Park der Hoffnung"
Stadtverwaltung Batman boykottiert Bank wegen Beteiligung an der Zerstörung von Hasankeyf
Spanische Bank BBVA im Visier der Kritik
Proteste gegen Andritz in Österreich, Tasmanien, Brasilien und Frankreich
Neue Filme
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Wasserkraftwerke am Schwarzen Meer gestoppt
Am 30.6.2011 erklärte das Unternehmen Dağlar Enerji, die Wasserkraftwerksprojekte Sarnıc I und II am Macahel-Fluss in der Provinz Artvin am Schwarzen Meer zu beenden. Bereits im vergangenen Jahr hatte ein Gericht festgestellt, dass die Projekte nicht im öffentlichen Interesse lägen, da sie ein UNESCO Biosphärenreservat beeinträchtigen würden. Eine Informationsveranstaltung des Unternehmens war von der betroffenen Bevölkerung gesprengt worden. Nun folgte die offizielle Bekanntgabe, dass das Unternehmen das Projekt nicht weiterverfolgen werde.
Ebenfalls in der Artvin-Provinz wurde am 28.6.2011 das Güneşili-Wasserkraftwerk von dem Unternehmen Nett Enerji aufgegeben.
http://www.bianet.org/bianet/toplum/131147-macahel-vadisinde-hesten-cekilme-karari
http://www.bianet.org/bianet/toplum/131092-hes-firmasi-gunesli-hes-projesinden-vazgecti
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Vereinte Nationen besorgt über Wasserkraftwerke in der Türkei – Überarbeitung der Umsiedlungsgesetze empfohlen
Tiefe Besorgnis über die möglichen Folgen des Ilisu-Staudamms sowie weiterer Dammprojekte in der Türkei äußert der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen in einem Bericht vom 25.5.2011. Er kritisiert sowohl die Zwangsvertreibungen, Umsiedlungs- und Entschädigungspraxis als auch die ökologischen und kulturellen Auswirkungen der Dammprojekte. Der Ausschuss fordert die türkische Regierung auf, beim Bau von Infrastrukturprojekten einen Menschenrechtsansatz zu verfolgen und die Gesetzgebung zu Vertreibung, Umsiedlung und Enteignung komplett zu überarbeiten.http://www.gegenstroemung.org/drupal/de/node/101, http://www2.ohchr.org/english/bodies/cescr/cescrs46.htm
In einem Bericht (http://www.gegenstroemung.org/drupal/sites/default/files/CESCR_Parallel%20report%20by%20CounterCurrent%20on%20Turkish%20dams_2011-03-15_0.pdf) an den Ausschuss hatten GegenStrömung und mehrere staudammkritische Initiativen der Türkei die Auswirkungen der türkischen Staudammpolitik und –praxis auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Betroffenen analysiert. Der Bericht liegt mittlerweile auch auf Türkisch vor.http://www.gegenstroemung.org/drupal/sites/default/files/CESCR_2011_parallel%20report%20tr%20-%20g%C3%B6lge%20rapor.pdf
Die Empfehlungen wurden auch von der türkischen Presse aufgegriffen: http://www.bianet.org/bianet/toplum/130412-bmden-baraj-ve-hes-uyarisi,
http://www.cumhuriyet.com.tr/?hn=249382.
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Großer Marsch von Anatolien gegen Naturzerstörung
Am 21.5.2011 erreichte der "Große Marsch von Anatolien" Ankara. Hunderte Aktivisten und Aktivistinnen waren 40 Tage und Nächte in einem Sternmarsch aus sieben Landesteilen zur Hauptstadt marschiert, um gegen die Zerstörung der Umwelt durch Wasserkraftwerke und andere Infrastrukturprojekte zu protestieren.http://vermeyoz.net/ http://www.zdf.de/ZDFmediathek/hauptnavigation/startseite/#/beitrag/video/1342072/Türkei:-Staudämme-zerstören-Umwelt. Ein aufrüttelndes Video über die Staudammproblematik in der Türkei mit dem Titel "The Revolt of Anatolia" ist zu finden unter http://vimeo.com/21679494.
In der Studie „HEPP’s, Dams and the Status of Nature in Turkey“ analysiert die Turkish Water Assembly, wie die türkische Umweltgesetzgebung den Ausverkauf der Natur zur Folge hat. http://anadoluyuvermeyecegiz.net/dosyalar/hepp_report_web.pdf
Doch setzt die türkische Regierung nicht nur trotz der immensen ökologischen, sozialen und kulturellen Folgen nach wie vor auf die Wasserkraft, auch die Atomenergie will sie ungeachtet der Katastrophe von Fukushima nutzen. AKWs an zwei Standorten, Akkuyu am Mittelmeer – in einem stark erdbebengefährdeten Gebiet – und Sinop am Schwarzen Meer, werden derzeit vorangetrieben.http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,751013,00.html
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Hasankeyf wieder eröffnet für Touristen
Nach massiven Protesten, an denen sich fast die gesamte Bevölkerung von Hasankeyf beteiligt hatte, wurde der Zugang zur Festung auf dem Tigris-Steilufer und zu dem umliegenden Gebiet Anfang wieder für Touristen geöffnet. Nach einem Felsabsturz im vergangenen Jahr hatte die Provinzregierung die Touristenattraktion gesperrt und damit der Bevölkerung ihre Haupteinnahmequelle genommen. Im Januar musste der Gouverneur nach den Protesten jedoch einlenken und die Wiedereröffnung für das Frühjahr zusagen. Diese ist nun teilweise tatsächlich erfolgt; gerade die beliebten Restaurants am Flussufer bleiben jedoch weiter geschlossen.
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Streik auf Ilisu-Baustelle
Ende April kam es zu einem Streik auf der Baustelle des Ilisu-Staudamms. Die Arbeiter protestierten gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne, die weit unter denen der aus entfernten Regionen angeheuerten Arbeiter lagen und kaum reichten, die Familien in Ilisu zu ernähren. Für täglich elf Stunden Arbeit bezahlten die Unternehmen Nurol und Cengiz monatlich lediglich 990 Türkische Lira (450 Euro). Nach Aussperrung etlicher Arbeiter und Abriegelung des Baustellengeländes durch das Militär gelang es den Arbeitern, die Wiedereinstellung ihrer Kollegen durchzusetzen. Das Versprechen der Unternehmen, höchste Standards einzuhalten, hat sich durch die Vorkommnisse aber aufs Neue als Makulatur erwiesen. http://www.firatnews.com/index.php?rupel=nuce&nuceID=41859
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Gutachter im Gerichtsauftrag unterwegs
Das Verwaltungsgericht in Diyarbakir beauftragte Ende März 2011 drei Wissenschaftler – einen Wasserbauingenieur und zwei Archäologen – den kulturellen Wert Hasankeyfs und den durch den Ilisu-Staudamm zu erwartetenden Schaden zu begutachten. Auf Grundlage dieses Gutachtens wird das Gericht über die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung für das Projekt entscheiden. Angestrengt wurde der Prozess im Jahr 2000 von dem Anwalt Murat Cano, der auch Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einreichte. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/1420480/, http://www.nytimes.com/2011/03/31/world/middleeast/31iht-m31-hasankeyf.html?_r=3&ref=middleeast
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Fünfte Baumpflanzaktion im „Park der Hoffnung“
Unter dem Motto „Junge Triebe treffen Historie in Hasankeyf“ pflanzte die Bevölkerung von Hasankeyf gemeinsam mit Delegationen aus verschiedenen Teilen der Welt und Abgeordneten anlässlich des Frühlingsbeginns zum fünften Mal in Folge junge Bäume am Ufer des Tigris. Mit dieser Aktion bekräftigen sie ihren Willen, für den Erhalt der antiken Stadt zu kämpfen.http://www.hasankeyfgirisimi.com/en/index-Dateien/treeplanting_19032011.htm
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Stadtverwaltung Batman boykottiert Bank wegen Beteiligung an der Zerstörung von Hasankeyf
Die Verwaltung der Provinzhauptstadt Batman bekräftigte am 13. April 2011 ihren Beschluss, nicht mit den beiden Banken, die Kredite für den Ilisu-Staudamm bereitstellen, zusammenzuarbeiten. Die Stadtverwaltung wird die Konten für ihre über tausend MitarbeiterInnen nicht bei Akbank oder Garantibank anlegen, obwohl letztere das finanziell günstigste Angebot abgab. Auch die Gewerkschaften Tüm Bel-Sen und Genel-Is betonten, dass sie die beiden Banken so lange boykottieren werden, bis die Kredite zurückgenommen werden. http://www.batman-bld.gov.tr/guncel-haberler/yikim-destekcileri-garanti-ve-ak-bank’a-batman-belediyesi’nden-veto.html
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Spanische Bank BBVA im Visier der Kritik
Mit Briefen und einer Protestaktion anlässlich der Aktionärsversammlung im spanischen Bilbao am 11.3.2011 kritisierten Nichtregierungsorganisationen aus der Türkei und Europa die spanische Bank BBVA für den Erwerb eines 24,9 %igen Anteils an der türkischen Garantibank. Sie fordern von der BBVA – einer Bank, die von sich behauptet, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu achten und zahlreichen Initiativen für verantwortungsvolle Bankgeschäfte beigetreten ist – dass sie sich für den Ausstieg ihrer Tochter Garantibank aus dem Ilisu-Projekt einsetzt oder ihre Beteiligung wieder aufgibt. http://www.wri-irg.org/node/12354 , http://www.banktrack.org/show/news/_so_few_policemen_for_so_many_thieves_bbva_the_assassin_
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Proteste gegen Andritz in Österreich, Tasmanien, Brasilien und Frankreich
Mit Protesten in mehreren Ländern wiesen UmweltschützerInnen anlässlich der Pressekonferenz zur Jahresbilanz des österreichischen Anlagenbauers Andritz auf dessen katastrophale öko-soziale Bilanz hin. Im Zentrum der Kritik standen die Staudämme Ilisu (Türkei), Belo Monte und Rio Madeira (beide Brasilien) sowie die Papierfabrik „Bell Bay Pulp Mill“ in Tasmanien. Allein durch diese Projekte komme es zur Vertreibung von 85.000 bis 100.000 Menschen, die Eliminierung von 100-150 Tierarten, die Zerstörung von ca. 210.000 Hektar einzigartiger Natur- und Kulturlandschaft, die Zerstörung der antiken Stadt Hasankeyf und anderer Kulturschätze am Tigris sowie die Abholzung von 200.000 ha Wald. http://m-h-s.org/ilisu/front_content.php?idcat=143&idart=697
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Neue Filme zu Ilisu und der Staudammproblematik in der Türkei:
The Revolt of Anatolia: http://vimeo.com/21679494
Sinking History – Turkey: http://www.youtube.com/watch?v=726-CyEMuoE
Stehende Flüsse: http://www.youtube.com/watch?v=3FnF-W5lahk
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Weitere Informationen: