Einer der Trümpfe der Wasserkraft ist ihre Verlässlichkeit; oder doch nicht?
Bisher war die Zuverlässigkeit der Wasserkraft eines der wichtigsten Argumente ihrer Befürworter*innen: Einmal gebaut, könne ein Wasserkraftwerk zu jeder Zeit und ungemein flexibel Strom produzieren. Doch genau dieser Vorteil der Wasserkraft geht zunehmend verloren.
Durch die menschengemachten Erderwärmung verändern sich gewohnte Niederschlagsmuster massiv. Je wärmer die Atmosphäre wird, desto mehr Wasserdampf kann sie aufnehmen. Dies führt einerseits dazu, dass das Wasser in den Luftmassen weniger leicht kondensiert, also abregnet: Häufigere und längere Dürren sind die Folge. Andererseits bedeutet dies auch, dass mehr Wasser in den Luftmassen vorhanden ist, das abregnen kann: Wenn es also einmal regnet, kommt es eher zu Starkregenereignissen, etwa in Rahmen von tropischen Wirbelstürmen (je nach Region Hurrikan, Taifun oder Zyklon genannt), die sich mit der Erderwärmung in vielen Regionen ebenfalls häufen können.
Für die meisten Regionen der Erde erwarten Klimaforscher*innen deshalb eine Verschärfung hydrologischer Extremereignisse: Längere und härtere Dürren werden durch kürzere und stärkere Regen unterbrochen. In einigen Regionen sind derartige Veränderungen bereits zu beobachten – ein Beispiel wäre der jährliche Monsunregen in Südostasien: In den letzten Jahren ist dieser immer unberechenbarer geworden, meist war er von kürzerer Dauer, hat aber dafür zu stärkeren Niederschlägen geführt.
Dies hat bedeutsame Folgen für die vermeintliche Zuverlässigkeit der Wasserkraft.
Dürren und Wasserkraftwerk
Ohne Wasser kein Strom aus Wasserkraftwerken. Dieser banale Satz bekommt für zahlreiche Länder, die stark von der Wasserkraft abhängen eine immer dringendere Bedeutung. Das derzeit viertgrößte Wasserkraftwerk der Erde, das Belo-Monte-Kraftwerk in Brasilien, hat seit seiner Fertigstellung im November 2019 niemals seine volle Kapazität ausgenutzt – wegen niedriger Wasserstände am Xingu-Fluss. In einigen Monaten hat das Kraftwerk durchschnittlich mit weniger als 400 MW gearbeitet – die installierte Kapazität liegt bei fast 12.000 MW. Das enorm teure und wegen Korruptions- und Umweltskandalen umstrittene Projekt schafft es nicht einmal, die veranschlagten Leistungsziele zu erfüllen.
Dies ist kein Einzelfall. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Stromkrisen, die eine unmittelbare Folge von Dürren und der Abhängigkeit von Wasserkraft waren, gemehrt. So kam es 2019 in Zimbabwe immer wieder zu Stromausfällen, weil die Pegelstände der Flüsse zu niedrig für die Stromproduktion in den Wasserkraftwerken waren. In Malawi, das 98 Prozent seines Stroms aus Wasserkraft bezieht, kam es aus gleichen Gründen zu einer Elektrizitätskrise. Im Jahr 2011 mussten über 1.000 Wasserkraftwerke in der chinesischen Provinz Yunnan ihre Produktion aufgrund einer Dürre einstellen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Insbesondere für Entwicklungsländer stellt somit eine zu starke Abhängigkeit von Wasserkraft eine schwere Hypothek dar. Die Folgen solcher Stromkrisen betreffen fast alle Wirtschaftsbereiche. Wenn man noch die hohen volkswirtschaftlichen Risiken der Wasserkraft bedenkt, ist die Gefahr groß, dass neugebaute Wasserkraftwerke zu nutzlosen aber teuren Prestigeprojekten werden.
Flutrisiko und Wasserkraftwerke
Doch als Entwicklungsruine zu enden wäre noch ein glimpfliches Schicksal für ein Wasserkraftwerk, im Vergleich dazu, was noch möglich wäre. Durch die oben genannte Veränderung der Niederschlagsmuster besteht auch die zunehmende Gefahr von Staudammunglücken.
Plötzlich eintretende Starkregen können Staudämme, die über Jahrzehnte zu niedrige Pegelstände hatten, schlagartig an ihre Belastungsgrenze bringen. Dies geschah zum Beispiel am Oroville Staudamm im Norden des US-Bundesstaates Kalifornien: Wegen einer langen Dürre war der Stausee über Jahre fast leer, Sportboote lagen auf dem trockenen. Dies endete schlagartig im Februar 2017, als die Schneeschmelze mit starken Regenfällen einherging. Plötzlich war der Stausee so voll, dass die Überlaufrinne aktiviert werden musste – zum ersten Mal seit Jahrzehnten.
Weil die Pegelstände des Stausees über Jahre zu niedrig waren, war die Überlaufrinne aber nur mangelhaft gewartet worden. Die herabrauschenden Wassermassen rissen Blöcke aus dem Beton, danach konnte das Wasser die Erdschüttung des Dammes immer weiter unterspülen. Wegen der rasant fortschreitenden Erosion erschien ein Dammbruch möglich, zehntausende Menschen mussten evakuiert werden.[1]
Insbesondere in Hochgebirgslagen verstärkt sich die Unfallgefahr für Staudämme mit dem fortschreitenden Klimawandel. Zum Beispiel schmelzen im Himalaya die Gletscher aufgrund der Erderwärmung schneller, als in den meisten anderen Regionen der Welt. Dies kann zu Sturzfluten führen, die dann die Stabilität von Staudämmen gefährden, etwa wenn durch schmelzendes Eis Abhänge instabil werden und Erdrutsche ausgelöst werden oder sich Gletscherseen schlagartig entleeren. Dies geschah etwa am Rishiganga-Fluss im indischen Teil des Himalaya: Mutmaßlich eine durch einen Erdrutsch verursachte Sturzflut brachte einen Staudamm zum brechen. Die Flutwelle raste das Tal hinab und überflutete zahlreiche Dörfer und kostete mindestens 68 Menschen das Leben.
Die Gefahr, die von solchen Staudammunglücken ausgeht, insbesondere in Flussbecken, wo mehrere Staudämme hintereinander in Kaskaden gebaut wurden, ist kaum zu unterschätzen. Das bislang größte Staudammunglück der Geschichte fand in der chinesischen Provinz Henan im Jahr 1975 statt. Nach einem Taifun stieg der Wasserstand des Banquiao-Staudamms so schnell, dass die Staumauer überflutet wurde und diese zusammenbrach. Mehrere hundert Millionen Kubikmeter Wasser ergossen sich innerhalb weniger Stunden unkontrolliert in einen Nebenarm des Huai-Flusses. Die Flutwelle raste das Flusstal hinunter und brachte 62 weitere Staudämme zum Kollaps, was die Flutwelle noch weiter vergrößerte. Einige Großstädte, kleinere Städte und zahlreiche Dörfer wurden überflutet, ohne dass sie evakuiert werden konnten. Da die chinesische Regierung die Informationen über die Katastrophe verdeckt hielt, sind die genauen Opferzahlen weiterhin unbekannt. Nach offiziellen Zahlen sind 26.000 Menschen allein durch die Flut ums Leben gekommen, konservativen Schätzungen zufolge müsste die Zahl aber bei mindestens 85.000 Menschen liegen. Da riesige Ernteschäden entstanden waren, kam es zu einer lokalen Hungersnot, die weiteren zehntausenden Menschen das Leben kostete. Durch die unberechenbaren Folgen des Klimawandels besteht die Gefahr, dass sich Katastrophen ähnlichen Ausmaßes wiederholen könnten.
Das zunehmende Risiko durch die Erderwärmung wird noch durch die Alterung der Infrastruktur verstärkt. In einer Anfang 2021 publizierten Studie der Universität der Vereinten Nationen legen die Autor*innen dar, dass viele Staudämme mit einem Alter von 50 bis 100 Jahren an das Ende ihrer effektiven Lebensdauer kommen. Zum einen versanden die Dämme durch die Ablagerung von Sedimenten, was deren Effektivität reduziert oder sie sogar unbrauchbar macht. Zum anderen wächst durch Verwitterung des Baumaterials die Gefahr von Dammbrüchen. Die Gefahren der alternden Infrastruktur und des Klimawandels verstärken sich gegenseitig.
Insbesondere in ärmeren Ländern, die nicht genug Ressourcen haben, um die Dämme ausreichend zu warten, wächst damit die Gefahr von Unfällen. Die Kosten für eine Instandsetzung alter Dämme sind aber enorm hoch – oft liegen sie bei einem mehrfachen der Kosten für den Abbau eines Damms. Aus diesem Grund werden immer häufiger Staudämme zurückgebaut. Allerdings fehlt für große Staudämme die Erfahrung, wie ein Rückbau zu bewerkstelligen wäre. Hier besteht ein wachsendes Problem, für das es noch keine zufriedenstellende Lösung gibt. Angesichts dieser Aussichten erscheint es kurzsichtig und geradezu fahrlässig, durch den Neubau großer Staudämme dieses Problem noch zu vergrößern.