Fünf Jahre nach dem Bruch des Damms des Rückhaltebeckens von Mariana
Triste Schlaglichter auf eines der größten Umweltverbrechen der jüngeren brasilianischen Geschichte, den Dammbruch bei Mariana, der am 5. November 2015 eine ganze Region ins Unglück stieß.
Im November 2015 brach nahe Mariana in Brasilien ein Rückhaltedamm des Bergbau-Unternehmens Samarco. Seither kämpft eine ganze Region mit den massiven sozialen und ökologischen Folgen dieser Katastrophe.
Am 5. November 2015 brach der Damm des Rückhaltebeckens Fundão nahe der Kleinstadt Mariana im Bundesstaat Minas Gerais in Brasilien. Millionen Kubikmeter an Bergwerksschlamm aus der Eisenerz-Mine der Firma Samarco und ein Tsunami aus Schlamm zerstörte mehrere Dörfer, 349 Häuser, Schulen und Kirchen… Die Flüsse Rio Gualaxo do Norte, Rio do Carmo und Rio Doce wurden verseucht. Insgesamt starben 19 Menschen. Samarco ist eine Aktiengesellschaft, die zu gleichen Teilen im Besitz der australisch-britischen BHP Billiton Brasil Ltda. und der brasilianischen Vale S.A. steht.
Laut Erhebung der US-amerikanischen Beraterfirma Bowker Associates stellt die Katastrophe von Mariana einen Dreifach-Negativ-Rekord in der Geschichte des Bergbaus dar: 1. Die Menge an ausgetretenem Schlamm: 32 bis 62 Millionen Kubikmeter, 2. Die Größe des betroffenen Gebiets: 680 Kilometern Flusslauf, 3. Die Schadenshöhe: 5 bis 55 Milliarden USD.
Fünf Jahre nach dem Bruch bei Mariana warten noch immer 334 Familien aus den damals komplett zerstörten Kleinstädten Bento Rodrigues, Paracatu de Baixo und Gesteira auf ihre Häuser als Entschädigungsleistung. Nach Angaben der Renova-Stiftung seien die Arbeiten der neuen Ersatz-Gemeinden im Gange, wie z.B. die Erdbewegung der Zufahrtsstraßen und der Grundstücksflächen, Arbeiten der Regenwasserkanäle, Wasser- und Abwassernetze. Das „neue“ Bento Rodrigues sei weiter vorangeschritten, so Renova, aber auch hier wurde 2019 der Eröffnungstermin auf 2021 verschoben. Die betroffenen Anwohner:innen trauen dem aber nicht, sie beobachten die Arbeiten, haben Angst, dass dort wieder schlampig gearbeitet wird, dass beispielsweise der korrekte Wasseranschluss vergessen wird, so eine Bewohnerin gegenüber der Zeitschrift Brasil de fato. Bei den Wiederaufbauplänen für Gesteira sieht die Situation deutlich schlechter aus: Hier wurde wegen Rechtsstreitigkeiten der Zuständigkeit vor einem Bundesgericht der bisherige Prozess gestoppt, unklar ist, wann dort weitergebaut wird.
Für Letícia Faria von der Bewegung der Betroffenen von Staudämmen (MAB) hat das System. Sie sieht die Verzögerungen als Ausdruck des Wiedergutmachungsmodells der Renova-Stiftung, das „das Image der Unternehmen schützt, eine gute Propaganda für das, was getan wird, was [die Stiftung] macht und so einen Präzedenzfall schafft, so dass alle zukünftigen Reparaturen, sei es durch Bruch oder Dammbau, von einer solch privaten Stiftung durchgeführt werden. Es handelt sich um eine Strategie zur Stärkung der Macht der Unternehmen in den Territorien“, so Faria gegenüber Brasil de fato Ende Oktober dieses Jahres. „Die Wiedergutmachung wird nicht umgesetzt, weil das Ziel darin besteht, die Gemeinden den Unternehmen gegenüber dauerhaft unterwürfig zu halten“, fügt sie hinzu.
Auch die Staatsanwaltschaft kritisiert, dass fünf Jahre nach dem Bruch noch immer nicht alle Entschädigungen geleistet wurden. „Die Katastrophe, die nicht nur Mariana, sondern das gesamte Einzugsgebiet des Rio Doce, ein Gebiet, das [von der Größe her] Portugal entspricht, verwüstet hat, hält weiter an. Fünf Jahre später ist nichts fertig“, sagt Silmara Goulart, Generalstaatsanwältin und Koordinatorin der Rio Doce Task Force. „Keine, absolut keine der betroffenen Gruppen, seien es Bauern, Wäscherinnen, Handwerker, Fischer, Kleinhändler, wurde vollständig entschädigt. Auch die Umwelt hat sich nicht vollständig erholt. Selbst die Gemeinde Bento Rodrigues, Symbol der Katastrophe, ist nicht wieder aufgebaut worden“, fügte die Staatsanwältin Silmara auf einer Pressekonferenz am 29. Oktober hinzu, berichtet das Internetportal Ecodebate.
Um die entstandenen Schäden zu beheben, hatten die Bundesbehörden, die Staaten Minas Gerais und Espírito Santo 2016 ein Transaktions- und Anpassungsabkommen (TTAC) mit den für den Staudamm verantwortlichen Unternehmen Samarco, BHP Billiton und Vale unterzeichnet. Zusätzlich zur Gründung der Renova-Stiftung, einer Organisation, die die Aufräumarbeiten, die Kompensationen und die Entschädigungen umsetzen sollte, legt das TTAC 42 Programme fest, die in dem 670 Kilometer langen Gebiet entlang des Rio Doce und seiner Nebenflüsse umgesetzt werden müssten. Später, im Jahr 2018, unterzeichneten die Justizbehörden mit den Unternehmen ein weiteres Abkommen, um die wirksame Beteiligung der betroffenen Personen am Prozess der vollständigen Entschädigung für die von ihnen erlittenen Schäden zu gewährleisten.
Jedoch, laut der neuesten Analyse der Bundesstaatsanwaltschaften, ist bei weitem nicht genug passiert. Fünf Jahre nach der Katastrophe sind demnach noch immer 29.039 Einwohner:innen von der Wasserversorgung per Tankwagen abhängig, da die Nutzung der verseuchten Wasserläufe und Grundwasserleiter noch immer unsicher ist, was durch die neue Coronavirus-Pandemie noch gravierender wird. Bis August dieses Jahres waren nur 153 von 374, das entspricht 41 Prozent der Maßnahmen zur Verbesserung der Wasserversorgungssysteme, abgeschlossen. Die im damaligen TTAC festgelegte Frist war bereits 2018 ausgelaufen. „Dies betrifft das grundlegendste Recht, nämlich den Zugang zu Wasser und den Zugang zu ihrer eigenen Gesundheit. Wenn man nicht sicher ist, dass das Wasser, aus dem die Nahrung für seine Kinder besteht, konsumiert werden kann, hat man keinen Seelenfrieden, und dann hat man ein weiteres psychisches Problem“, sagt Carolina Morishita, eine staatliche Pflichtverteidigerin in Minas Gerais.
Erst im September dieses Jahres hatten Wissenschaftler:innen der Universidade Federal do Espírito Santo (Ufes) neue Studienergebnisse veröffentlicht, die in den Sedimenten des Rio Doce hohe Belastungen an vor allem Kadmium und Arsen nachwiesen, die auch in Fischproben, in Proben von Untergrundwasser sowie in menschlichen Proben in deren Haar und Fingernägeln gefunden wurden.
Außerdem erhielten laut der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft von den 31.755 registrierten Familien bis August 2020 nur 10.885, das entspricht 34 Prozent, eine Art Entschädigung. André Sperling, Staatsanwalt in Minas Gerais, verglich die Situation mit Brumadinho, wo 2019 ebenfalls ein Damm in Vale brach und der 259 Tote hinterließ. Dort erhalten laut Sperling mehr als 100.000 Menschen eine gewisse Unterstützung. „Dies ist im Rio-Doce-Becken nie auch nur annähernd geschehen. Es hat nie eine Gelegenheit gegeben, den Betroffenen ein wenig mehr Sicherheit für diesen Verhandlungsprozess zu geben. Was es gibt, ist, dass die betroffenen Menschen hilflos sind“, sagte er, so berichtet es das Internetportal Ecodebate.
Beim Prozess um Entschädigungszahlungen zeigt sich zudem eine strukturelle Benachteiligung von Frauen. So hat die Bundesstaatsanwaltschaft anhand einer Untersuchung der Verwaltungsakten der Betroffenen jüngst festgestellt, dass bislang nur 39 Prozent der vom Dammbruch bei Mariana betroffenen Frauen überhaupt erst in den Betroffenenbefragungen angehört wurden. Laut Maíra Almeida Carvalho, Psychologin des Teams für psychische Gesundheit von Mariana, in dem sich die meisten der durch den Dammbruch Vertriebenen befinden, wurden seit Beginn der Reparationsverhandlungen seitens der zuständigen Stiftung Renova meist nur die beruflichen Aktivitäten der Männer berücksichtigt. „Es war sehr klar, dass nur die formalen Aktivitäten von Männern berücksichtigt wurden, um beispielsweise finanzielle Nothilfe zu erhalten. Dies verschärfte die Konflikte, da die Frauen noch stärker der Tatsache ausgesetzt waren, dass sie keine anerkannten Aktivitäten hatten und noch abhängiger waren. Neben ihrer Arbeit haben sie immer auch die Rolle des Betreuers für die Familie, die älteren Menschen und die Kinder übernommen“, sagte die Psychologin der Tageszeitung Estado de Minas, die eine mehrteilige Serie zu den Folgen von Mariana anlässlich des nun anstehenden fünften Jahrestages herausgegeben hat.
Bereits in den ersten Jahren nach dem Dammbruch, als offiziell die ersten Wiedergutmachungsprozesse von der von Samarco, Vale und BHP Billiton eingesetzten Stiftung Renova begannen, wiesen Betroffene darauf hin, dass es zu einer systematischen Diskriminierung von Frauen in diesem „Wiedergutmachungsprozess“ käme: Männlich-chauvinistische Standards herrschten bei der Freigabe von Entschädigungszahlungen. Diese Kritik wurde Ausgangspunkt dafür, dass die Bundesstaatsanwaltschaften von Minas Gerais und Espírito Santo eine Studie zur Situation der vom Dammbruch bei Mariana betroffenen Frauen im Einzugsgebiet des Rio Doce in Auftrag gab. Für die Durchführung der Analyse nutzte die beauftragte Beratungsfirma Ramboll Daten aus den Registern, aus den Ombudsmann-Büros und den Verwaltungsakten der Renova-Stiftung. Die Studie kam zu dem Schluss, dass es eine Reihe von Verstößen gegen Frauen in der Entschädigungsarbeit gab, wie z.B. sexuelle Belästigungsprobleme, Betrug, Probleme mit der Anerkennung, weil die nicht-formalisierte Arbeit der Frauen nicht berücksichtigt wurde. Laut der Zeitschrift Brasil de fato ging es bei 37 Prozent der Beschwerden von Frauen um sexuelle Belästigung, bei 38 Prozent um Betrug und bei 20 um Korruption. Dem Bericht von 2019 zufolge sind nach wie vor etwa 43 Prozent der Frauen arbeitslos. Von denjenigen, die nach dem Dammbruch irgendeine Art von Krankheit zeigten, hatten 80 Prozent Tuberkulose und 50 Prozent ein Atemwegsproblem.
Exemplarisch spricht die betroffene Bewohnerin Simone Silva, die zu der Gruppe organisierter Frauen gehört, die seit mehr als drei Jahren auf eine Antwort des Bergbauunternehmens warten und noch nicht als betroffen anerkannt sind. 2019 erklärte sie gegenüber Brasil de fato: „Renova hat die Frauen auf dem Territorium nicht anerkannt. Dies war ein Grund für viele Ehekriege und sogar für Trennungen zwischen Paaren, denn im Allgemeinen erkennt sie [die Stiftung Renova] den Mann an, aber sie erkennt die Frau nicht an“, sagte sie.
Die Bewohner:innen leiden noch immer unter Krankheiten. Um 15 Prozent hat die Einnahme von Psychopharmaka der überlebenden Betroffen in den 39 vom Dammbruch in Mitliedenschaft gezogenen Munizipien in den Bundesstaaten Minas Gerais und Espírito Santo entlang der Flutwelle aus Bergwerksabraum, der den Lauf des Rio Doce hinunterraste, zugenommen, so Medienberichte. Um 75 Prozent haben die schweren Fälle von anhaltenden Atemwegserkrankungen zugenommen, berichten laut dem Pressebericht die Mediziner:innen in den betroffenen Munizipien. Und die von der Stiftung Renova, die für die Wiederinstandsetzung, die Renaturierung, die Entschädigungen und die Maßnahmen zur medizinischen Betreuung der Betroffenen zuständig ist, angekündigte Medizinbetreuung wurde noch immer nicht umgesetzt. Laut der von der Bundesstaatsanwaltschaft zur unabhängigen Beobachtung der von Renova in die Wege geleiteten Maßnahmen eingesetzten Consulting Ramboll wurde bisher nur in den beiden Bezirken Mariana und Barra Longa medizinisches Personal durch Renova aufgestockt, wobei man in Mariana damit aber durchaus weiter ist als in Barra Longa, wo grad noch immer erst der Masterplan diskutiert wird, so die Tageszeitung Estado de Minas Gerais Anfang November.
Auch die Aufräumarbeiten gehen nach wie vor nur schleppend voran. Die Consulting Ramboll nahm Auswertungen der Aufräum- und Instandsetzungsarbeiten Renovas unter die Lupe. Die Analyse zeigt, dass Renovas Aktionen zur Sanierung der Umwelt zu den am meisten verzögerten oder nicht umgesetzten Maßnahmen gehören. Bisher wurden von den 44 Millionen Kubikmetern Bergematerial, die aus dem Damm ausgetreten sind, nur 1.161.591 (2,6 Prozent) aus den Flussbetten der Flüsse Gualaxo do Norte, Rio Carmo und Rio Doce entfernt. Von den 17 durch Bergbauabfälle in Mitleidenschaft gezogenen Gewässerabschnitten verfügen nur fünf überhaupt über einen Entsorgungsplan, wohin das Material verbracht werden soll. Am krassesten zeige sich, so Ramboll, die Verschleppung der Aufräumarbeiten am Staudamm Candonga. Dort waren 26 Prozent allen Abraums aus dem Bergwerk von Samarco im Stauseereservoir hängen geblieben, und die Stiftung Renova hatte sich verpflichtet, das Material aus dem Stausee zu entfernen, auf dafür extra vorbereiteten Flächen zu lagern und hinterter so aufzubereiten, dass es – gereinigt um Schadstoffe – wiederverwendet werden könne, beispielsweise im Straßenbau oder bei Häuserbauprojekten. Am Stausee Candonga hatte Renova dafür das Gelände der angrenzenden Fazenda Floresta gemietet, doch die dortigen Arbeiten ruhen seit 2018, so die Tageszeitung Estado de Minas Gerais Anfang November. Denn Renova bevorzugt mittlerweile die Variante, das Material aus dem Bergbauschlammtsunami im Stausee zu belassen, die Bundesstaatsanwaltschaft verlangt die Entfernung aus dem Reservoir, – der Rechtsstreit darüber kann sich noch Jahre hinziehen.
Währenddessen steht die zum Stausee Candonga gehörende Wasserkraftanlage Usina Hidrelétrica de Risoleta Neve still, da die Turbinen durch das Eisenschlamm haltige Wasser beschädigt werden würden, ginge das Kraftwerk in Betrieb, ohne zuvor den Abraum aus dem Kraftwerksee entfernt zu haben. „Das Wasserkraftwerk Risoleta Neves in Candonga ist seit fünf Jahren stillgelegt, und in der Zwischenzeit erfolgt [der Ausgleich des Ausfalls] des Stromnetzes durch andere Einheiten. Der Verbraucher wird durch den Ausgleichsmechanismus des nationalen Elektrizitätssektors [zusätzlich mit erhöhten] Kosten belastet, dieser wurde bisher von der National Energieagentur Aneel auf 416 Millionen R$ geschätzt“, sagt Staatsanwalt Paulo Henrique Camargos Trazzi gegenüber Tageszeitung Estado de Minas Gerais.
Indessen wurden eine Reihe von Rechtsprozessen gegen die für den Dammbruch Verantwortlichen eingestellt, einige wenige laufen noch weiter. Bis wann mit einem diesbezüglichen Abschluss zu rechnen ist, ist offen. Im September dieses Jahres jedenfalls haben die Bundesstaatsanwaltschaften von Minas Gerais und Espírito Santo jedenfalls ihre 2018 vorläufig eingestellte Zivilentschädigungsklage gegen Samarco wieder aus den Schubladen geholt, weil die Entschädigungsprozesse seitens der Stiftung Renova zu langsam laufen und die Staatsanwaltschaften gezielte Verschleppung und Übervorteilung der Betroffenen mutmaßen. Die nun wieder aufgenommene Klage sieht eine Gesamtentschädigung von 155 Milliarden Reais vor (derzeit umgerechnet 23 Milliarden Euro).